Abfahrt.
ABFAHRT
Freitag, 13 Uhr 18 Minuten.
Der heimelig-grindige Duft, wie Thomas Stipsits ihn nennen würde, drang in seine Nase. Er kannte ihn, weil er oft am Bahnhof stand und wartete. Dieses Mal hätte er beinahe Pech gehabt; er war zu spät dran, hatte noch Blumen besorgt und versäumte fast den Zug. Ja, hätte ihn versäumt, wenn José Plecnik nicht wieder einmal Verspätung gehabt hätte. Gut, das konnte passieren, er kam immerhin aus Salzburg. Aber heute war er froh darüber, dass er noch einige Minuten hatte. So konnte er noch zum großen, roten Snackautomaten gehen und sich einen Schokoriegel holen, vielleicht sogar zwei. Mit Handy bezahlen funktioniert nicht, er hatte das falsche Handynetz. Hatte er schon vor längerer Zeit einmal probiert, ging nur für A1-Kunden. Dann halt Kleingeld zusammenkratzen und ausrechnen, was sich ausgeht. Er überlegte sogar, ob er sich noch schnell eine Flasche Mineralwasser holen sollte oder einen Kaffee beim Anker, aber er hatte Angst, dass er den Zug dann nicht mehr erwischen würde. Er war noch ziemlich außer Atem, weil er direkt zum Bahnsteig gelaufen war, Treppen runter, Treppen rauf, damit er den Zug nur ja erwischen würde. Nicht einmal die Zeit eine Karte zu kaufen hatte er gehabt. Aber das war nicht so schlimm.
Stefan hatte sich lange überlegt, welchen Zug er nehmen wollte, und sich für José Plecnik nach Graz entschieden. Und – so konsequent war er – den wollte er jetzt auch nicht versäumen. Nicht dass es nicht egal wäre, welchen er nehmen würde; immerhin hatte er kein besonderes Ziel sondern wollte nur weg von hier. Aber wenn er sich einmal entschieden hatte, etwas zu machen, wollte er konsequent sein. In letzter Zeit hatte es nicht so geklappt mit der Konsequenz. In seinem Job war er nicht mehr so gut, wie er sein wollte. Seiner Meinung nach immer noch besser als seine Kollegen, trotzdem nicht mehr so gut wie er einmal war. Auch in der Beziehung lief es gerade nicht so gut, aber das sollte sich heute ändern. Er hatte ja Blumen dabei. Und die waren für seine Angebetete. Er brachte ihr immer wieder Blumen mit, wenn er zu ihr fuhr. Sie führten eine Fernbeziehung, von der beide der Meinung sind, dass sie einerseits gut für sie war, da sie ihren Freiraum brauchen, andererseits wiederum nicht, weil keiner der beiden ein Auto hatte und sie so auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen waren. Und das konnte bedeuten, dass sie sich arbeitsbedingt eine ganze Woche nicht sahen. Aber heute war er zuversichtlich. Abgesehen von diesen – wie er sie nannte – Alphaproblemen, gab es – wie sollte es anders sein – auch Betaprobleme, die nicht ganz so schlimm waren, die aber an Intensität gewannen, wenn die Alphaprobleme größer wurden. Diese Betaprobleme waren nichts besonderes, wahrscheinlich hat jeder von uns diese oder ähnliche Kleinigkeiten, die ihm an seinem Leben nicht passen. Da ein bisschen zu wenig Geld, dort ein wenig zu viel Gewicht und hier und da noch andere Zwistigkeiten mit Kollegen, Freunden oder anderen unwichtigen Menschen. Unwichtig. Das war das Wort, das Stefan gern gebrauchte. Seitdem er seine Liebste hatte, waren viele andere Menschen ihm sehr unwichtig geworden. Nur seine engsten Freunde und sein innerster Familienkreis zählten noch, alle anderen Bekannten und Verwandten vernachlässigte er. Aber das durfte er wohl auch, er war das erste Mal wieder richtig verliebt. Und sie auch, das hatte sie ihm immer wieder versichert. Und er merkte es auch. Ihre Bewegungen, ihre Gesten, ihre Worte, alles war, wie er es sich vorstellte.
Die beiden lernten sich auf einer Party kennen. Beide waren nur aus Gefälligkeit dort, beide langweilten sich und beiden sah man es an. Sarah sah es Stefan sogar so sehr an, dass sie ihn drauf ansprach. Das war normalerweise nicht ihre Art, aber sie wollte noch etwas aus dem Abend machen und sich nicht wie all die anderen sinnlos betrinken und dies auch noch erwachsen finden müssen. Also sprach sie Stefan an. Etwas Small Talk und bald stand die Entscheidung fest, dass sie die Party verlassen würden. Sie besuchten eine Bar, auf die sie sich nach kurzer Zeit geeinigt hatten, die Sarah durchaus mit dem Hintergedanken auswählte, dass sie nahe an ihrer Wohnung lag. Ein paar Getränke, etwas intimere Themen und einige 'unabsichtliche' Berührungen später, nahm die resolutere Sarah ihren Fang mit nach Hause. Für sie war es nichts Neues, für ihn nichts Unangenehmes. Sie liebten sich, lernten sich in Folge eben sogar lieben.
Und jetzt, nach knapp sechs Monaten, wollten sie wieder eines jener angenehmen Wochenenden verbringen, das aus ausgiebigen Spaziergängen, gutem Sex und gutem Essen bestand. Einzig trübte eine Nachricht, die Stefan am Tag vor seiner Abfahrt von einer gemeinsamen Freundin bekam, Stefans Gedanken. Nur ein paar Worte, aber scheinbar an den falschen Empfänger geschickt. Und nach einigen Nachforschungen fand Stefan heraus, dass es sich um die Wahrheit handelte. Sarah hatte ihn betrogen, weil sie – wie sie der gemeinsamen Freundin bestätigte – dringend Sex brauchte. Es hatte nichts mit Liebe zu tun oder damit, dass sich ihre Gefühle für Stefan geändert hätten. Als er heute mit ihre telefonierte, druckste sie zuerst herum, gestand am Ende den Fauxpas, aber nicht ohne zu versichern, dass er keine Angst haben müsse. Sie hätte sich noch genügend für ihn aufgespart. Und so besorgte Stefan Blumen, er schrieb ihr sogar einen kleinen Gruß dazu, auch nur wenige Worte, aber doch deutlich. Er wollte es nicht mit ihr verscherzen, er liebte sie ja noch. Das änderte sich durch diese – wie sie es nannte – Kleinigkeit nicht.
Endlich erklang das vertraute Läuten über die Lautsprecheranlage mit anschließender Bekanntgabe, dass der Zug gleich einfährt. Stefan ging den Bahnsteig entlang um wie immer bei den hinteren Waggons zu stehen. Die waren gemütlicher. Kurz darauf sah er den Zug sich nähern. Die Lok querte die letzte Weiche und fuhr Richtung Bahnsteig 2.
'Ich liebe dich immer noch. Ich mach das nur für dich. Bis bald.' steht auf der Karte. Zwanzig Meter bevor der Zug einfuhr, sprang Stefan mit den Blumen in der Hand auf Gleis.
Freitag, 13 Uhr 27 Minuten.
-D.
Freitag, 13 Uhr 18 Minuten.
Der heimelig-grindige Duft, wie Thomas Stipsits ihn nennen würde, drang in seine Nase. Er kannte ihn, weil er oft am Bahnhof stand und wartete. Dieses Mal hätte er beinahe Pech gehabt; er war zu spät dran, hatte noch Blumen besorgt und versäumte fast den Zug. Ja, hätte ihn versäumt, wenn José Plecnik nicht wieder einmal Verspätung gehabt hätte. Gut, das konnte passieren, er kam immerhin aus Salzburg. Aber heute war er froh darüber, dass er noch einige Minuten hatte. So konnte er noch zum großen, roten Snackautomaten gehen und sich einen Schokoriegel holen, vielleicht sogar zwei. Mit Handy bezahlen funktioniert nicht, er hatte das falsche Handynetz. Hatte er schon vor längerer Zeit einmal probiert, ging nur für A1-Kunden. Dann halt Kleingeld zusammenkratzen und ausrechnen, was sich ausgeht. Er überlegte sogar, ob er sich noch schnell eine Flasche Mineralwasser holen sollte oder einen Kaffee beim Anker, aber er hatte Angst, dass er den Zug dann nicht mehr erwischen würde. Er war noch ziemlich außer Atem, weil er direkt zum Bahnsteig gelaufen war, Treppen runter, Treppen rauf, damit er den Zug nur ja erwischen würde. Nicht einmal die Zeit eine Karte zu kaufen hatte er gehabt. Aber das war nicht so schlimm.
Stefan hatte sich lange überlegt, welchen Zug er nehmen wollte, und sich für José Plecnik nach Graz entschieden. Und – so konsequent war er – den wollte er jetzt auch nicht versäumen. Nicht dass es nicht egal wäre, welchen er nehmen würde; immerhin hatte er kein besonderes Ziel sondern wollte nur weg von hier. Aber wenn er sich einmal entschieden hatte, etwas zu machen, wollte er konsequent sein. In letzter Zeit hatte es nicht so geklappt mit der Konsequenz. In seinem Job war er nicht mehr so gut, wie er sein wollte. Seiner Meinung nach immer noch besser als seine Kollegen, trotzdem nicht mehr so gut wie er einmal war. Auch in der Beziehung lief es gerade nicht so gut, aber das sollte sich heute ändern. Er hatte ja Blumen dabei. Und die waren für seine Angebetete. Er brachte ihr immer wieder Blumen mit, wenn er zu ihr fuhr. Sie führten eine Fernbeziehung, von der beide der Meinung sind, dass sie einerseits gut für sie war, da sie ihren Freiraum brauchen, andererseits wiederum nicht, weil keiner der beiden ein Auto hatte und sie so auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen waren. Und das konnte bedeuten, dass sie sich arbeitsbedingt eine ganze Woche nicht sahen. Aber heute war er zuversichtlich. Abgesehen von diesen – wie er sie nannte – Alphaproblemen, gab es – wie sollte es anders sein – auch Betaprobleme, die nicht ganz so schlimm waren, die aber an Intensität gewannen, wenn die Alphaprobleme größer wurden. Diese Betaprobleme waren nichts besonderes, wahrscheinlich hat jeder von uns diese oder ähnliche Kleinigkeiten, die ihm an seinem Leben nicht passen. Da ein bisschen zu wenig Geld, dort ein wenig zu viel Gewicht und hier und da noch andere Zwistigkeiten mit Kollegen, Freunden oder anderen unwichtigen Menschen. Unwichtig. Das war das Wort, das Stefan gern gebrauchte. Seitdem er seine Liebste hatte, waren viele andere Menschen ihm sehr unwichtig geworden. Nur seine engsten Freunde und sein innerster Familienkreis zählten noch, alle anderen Bekannten und Verwandten vernachlässigte er. Aber das durfte er wohl auch, er war das erste Mal wieder richtig verliebt. Und sie auch, das hatte sie ihm immer wieder versichert. Und er merkte es auch. Ihre Bewegungen, ihre Gesten, ihre Worte, alles war, wie er es sich vorstellte.
Die beiden lernten sich auf einer Party kennen. Beide waren nur aus Gefälligkeit dort, beide langweilten sich und beiden sah man es an. Sarah sah es Stefan sogar so sehr an, dass sie ihn drauf ansprach. Das war normalerweise nicht ihre Art, aber sie wollte noch etwas aus dem Abend machen und sich nicht wie all die anderen sinnlos betrinken und dies auch noch erwachsen finden müssen. Also sprach sie Stefan an. Etwas Small Talk und bald stand die Entscheidung fest, dass sie die Party verlassen würden. Sie besuchten eine Bar, auf die sie sich nach kurzer Zeit geeinigt hatten, die Sarah durchaus mit dem Hintergedanken auswählte, dass sie nahe an ihrer Wohnung lag. Ein paar Getränke, etwas intimere Themen und einige 'unabsichtliche' Berührungen später, nahm die resolutere Sarah ihren Fang mit nach Hause. Für sie war es nichts Neues, für ihn nichts Unangenehmes. Sie liebten sich, lernten sich in Folge eben sogar lieben.
Und jetzt, nach knapp sechs Monaten, wollten sie wieder eines jener angenehmen Wochenenden verbringen, das aus ausgiebigen Spaziergängen, gutem Sex und gutem Essen bestand. Einzig trübte eine Nachricht, die Stefan am Tag vor seiner Abfahrt von einer gemeinsamen Freundin bekam, Stefans Gedanken. Nur ein paar Worte, aber scheinbar an den falschen Empfänger geschickt. Und nach einigen Nachforschungen fand Stefan heraus, dass es sich um die Wahrheit handelte. Sarah hatte ihn betrogen, weil sie – wie sie der gemeinsamen Freundin bestätigte – dringend Sex brauchte. Es hatte nichts mit Liebe zu tun oder damit, dass sich ihre Gefühle für Stefan geändert hätten. Als er heute mit ihre telefonierte, druckste sie zuerst herum, gestand am Ende den Fauxpas, aber nicht ohne zu versichern, dass er keine Angst haben müsse. Sie hätte sich noch genügend für ihn aufgespart. Und so besorgte Stefan Blumen, er schrieb ihr sogar einen kleinen Gruß dazu, auch nur wenige Worte, aber doch deutlich. Er wollte es nicht mit ihr verscherzen, er liebte sie ja noch. Das änderte sich durch diese – wie sie es nannte – Kleinigkeit nicht.
Endlich erklang das vertraute Läuten über die Lautsprecheranlage mit anschließender Bekanntgabe, dass der Zug gleich einfährt. Stefan ging den Bahnsteig entlang um wie immer bei den hinteren Waggons zu stehen. Die waren gemütlicher. Kurz darauf sah er den Zug sich nähern. Die Lok querte die letzte Weiche und fuhr Richtung Bahnsteig 2.
'Ich liebe dich immer noch. Ich mach das nur für dich. Bis bald.' steht auf der Karte. Zwanzig Meter bevor der Zug einfuhr, sprang Stefan mit den Blumen in der Hand auf Gleis.
Freitag, 13 Uhr 27 Minuten.
-D.
skasperl - 2008/12/06 20:10